Anhang zum HFDO-Kalender für 2011
Bekanntlich war aus ideologischen Gründen in der ehemaligen Sowjetunion kaum etwas über die Familienforschung zu hören. In der heutigen Russischen Föderation gibt es dagegen sogar Fernsehprogramme über Stammbäume von Adelsfamilien und verdienter Persönlichkeiten. In Deutschland gibt es fast in jeder Stadt eine Forschungsgruppe, die sich mit der Familien und Regionalgeschichte beschäftigt. Nach den eigenen Vorfahren sucht man hier zuerst in den Kirchenbüchern, welche nicht überall gleich, aber zumeist schon seit 1615 vorhanden sind. In Bezug auf die Familienforschung und die hierfür unverzichtbar wichtige Informationssammel und Aufbewahrungssorgfalt ist besonders die in den USA und Kanada sehr verbreitete Glaubensgemeinschaft „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (oft als „Mormonen“) bekannt. Sie wurde 1838 gegründet, ihr Sitz befindet sich in Salt Lake City, Utah/USA und sie zählt weltweit über 13 Millionen Gläubige (davon ca. 3600 in Deutschland). Im Glauben, dass nach dem Tod der Mensch in einer anderen Welt weiter lebt und man sich dort Wiedersehen kann, erstellen sie pflichtbewusst ihre Familienstammbäume, um einander schneller zu finden und zu erkennen.
Die Mormonen haben inzwischen in vielen Ländern der Welt die Kirchenbücher fotokopiert und stellen diese Fotokopien in ihren Gemeinden zur Verfügung. Auch ein Teil von Kirchenbüchern aus Russland hatte die Glaubensgemeinschaft inzwischen kopiert. Auskunft über diese Unterlagen kann man auch in der Kirchenzentrale in Deutschland bekommen1. Weitere Information über die Kirche und deren Unterlagen finden sie beispielsweise unter: familysearch.org.
Bevor man sich jedoch an die Kirche wendet, sollten möglichst alle Angaben zu den Familienangehörigen bei den noch lebenden Verwandten und Bekannten eingeholt werden. Auch wenn diese Angaben oft ohne korrekte Daten oder Namen sind, kann man sie später aufgrund der aufgefundenen Archivunterlagen jederzeit präzisieren und korrigieren, die ersten Anhaltspunkte für die Archivsuche ist jedoch von großer Bedeutung.
Für ein Teil der Russlanddeutschen, dessen Verwandten während des letzten Krieges in einer der damaligen Einwanderungszentralen „durchgeschleust“ wurden (ca. 350 000 Personen), wäre vielleicht zunächst ein Blick in die vorhandenen EWZ-Listen sehr hilfreich, denn in dieser Quelle könnte man im Glücksfall bis zu 20 Aktenseiten finden, und zwar evtl, sogar mit Fotos und handgeschriebenen Lebensläufen, Angaben zu den Wohnorten vor der Umsiedlung nach Deutschland und bis zu drei Generationen an Vorfahren. Allerdings sind leider nicht alle EWZListen so aussagekräftig, auch nicht alle Personen wurden während des Krieges in einer dieser Zentralen, zuletzt im sog. „Schnellverfahren“ eingebürgert. Einigen Personen, beispielsweise aus sog. „Mischehen“ oder auch Nichtdeutsche (ca. 20 000 Personen) erhielten damals oft eine Einbürgerung auf Widerruf oder sogar einen Zurückstellungsbescheid.
Insbesondere in den letzten Monaten des Krieges konnten einige Familien wegen des schnellen Vorrückens der Sowjetarmee nicht mehr ordnungsgemäß „durchgeschleust“ werden, manchmal wurden sie nicht einmal registriert. Auch diejenigen, die in dieser Zeit noch schnell in die Wehrmacht oder in die WaffenSS einberufen worden sind, wurden nicht mehr in den EWZ, sondern zumeist schon direkt in ihren Front-Regimentern registriert und eingebürgert. Dabei darf die Registrierung, Aufnahme in die „deutsche Volksliste“ und Ausstellung von Volkstums-Ausweisen vom Reichskommissariat in den von der Wehrmacht besetzten ukrainischen Gebieten nicht mit den Einzeleinbürgerungen in den EWZ-Stellen verwechselt werden.
Die Unterlagen aus den EWZ-Stellen, insbesondere über die Einbürgerungen kamen nach dem Krieg ins US-Amerikanische Document-Center und wurden erst nach dem Fall der Mauer an das Deutsche Bundesarchiv2 übergeben. Allerdings befinden sich viele Unterlagen und diverse Kopien von den Akten immer noch im USA National Archiv3. Nach Angaben der USA-Forscher sind etwa 10% der EWZ-Listen in den Kriegs wirren verloren gegangen. Es sind allerdings auch Fälle bekannt, dass Amerikaner einige Akten bei sich haben und im Berliner Bundesarchiv diese nicht vorhanden sind und umgekehrt. Mehr über die EWZ-Liste in den USA können sie auf der Homepage des „The National Archives at College Park, Maryland“ finden: archives.gov/college-park (hauptsächlich in englischer Sprache).
Das Bundesarchiv und die Mormonen hatten in einem gemeinsamen Projekt vor, die EWZ-Listen und die Kirchenbücher als Mikrofilm den Forschern zur Verfügung zu stellen. Die Mormonen verfügen jedoch nur über die ersten zwei Seiten aus den EWZ-Unterlagen, jeweils aus den Stammblättern (Einbürgerungsanträge) und aus der Gesundheitskartei. Das Berliner Bundesarchiv hatte die EWZ-Akten (Bestand 69) auf seiner Homepage freigegeben. Diese können mit der Suchmaschine „ARGUS“ durchsucht werden. Bei nachgewiesener Verwandtschaft dürfen die Einbürgerungsunterlagen der eigenen Familienmitglieder eingesehen werden, dies gilt auch für Forscher bei wissenschaftlichen Untersuchungen (weitere umfangreiche Benutzungsbedingungen müssen dabei ebenfalls eingehalten werden). Die Archivunterlagen über die Einbürgerungen aus der Kriegszeit bleiben auch heute ein gültiges (Nachweis-) Dokument. Nach dem damaligen Staatsangehörigkeitsrecht haben Frauen, die während des Krieges eingebürgert wurden, aber vor 1956 einen nichtdeutschen Staatsangehörigen (darunter werden auch sog. „Volksdeutsche“ verstanden) geheiratet haben, ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Bei einer Heirat nach 1956 konnte die Staatsbürgerschaft durch „Erklärung“ (innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnis darüber) wieder erlangt werden. Landsleute, die auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit auf diese Weise nachgewiesen haben, aber auch deren Nachkommen, können dann jederzeit das Ausstellen eines deutschen Passes bei der deutschen Botschaft beantragen und nach Deutschland einreisen. Allerdings ist damit die Anerkennung des Status „deutscher Spätaussiedler“ nicht verbunden, so dass auch die noch unvollständig vorhandene Anrechnung der Arbeitsjahre auf die deutsche Rente nicht vorgenommen werden kann.
Ein Teil der EWZ-Listen verblieb in der Sowjetischen Besatzungszone und kam nach dem Zweiten Weltkrieg – genauso wie die vielen „repatriierten“ Russlanddeutschen – in die UdSSR. Diese befinden sich hauptsächlich in den Archiven der jeweiligen Gebietshauptstädte (Odessa, Nikolajew, Dnjepropetrowsk usw.), je nach Wohnort der „Repatrianten“ vor dem Krieg. Diese Russlanddeutschen wurden in entsprechenden Archivkarteien der Gebietshauptstädte registriert. In den Karteien wurden dann auch Daten über den jeweils neuen Aufenthaltsort, berufliche Tätigkeit, Familienstand etc. aus den Sonder- ansiedlungen in Kasachstan, im Uralgebiet, in Sibirien und Mittelasien bis in die 70er Jahre eingetragen und regelmäßig aktualisiert.
Bei der Suche nach Angehörigen, die während des Krieges in einer deutschen Militäreinheit gedient oder gearbeitet haben könnten außerdem das Militärarchiv in Freiburg4 oder auch das Deutsche Rote Kreuz in Hamburg5 angeschrieben werden.
Michael Wanner, Regenstauf